Der Rahmenbruch
53 km • + 1.436 hm • - 2.426 hm • 05:36:00 Nettozeit
Am Morgen des fünften Tages sehe ich mir zuerst die Festungsanlage neben der Dürrensteinhütte (2.040 m) an. Während sich vor wenigen Jahren noch jede Menge Müll in der Festungsruine Plätzwiese häufte, ist sie nun leer geräumt und es scheint auch als würde etwas daran restauriert werden. Ein Schild weist auf „Privatbesitz“ hin. Immer mehr alten Festungen wurden in den letzten Jahren wieder hergerichtet. Die Wirtin der Dürrensteinhütte weiß wenig über das Werk Plätzwiese. Sie denkt nur manchmal daran, wie die armen Soldaten mit ihrer unzureichenden Ausrüstung im Winter damals gefroren haben müssen.
Um den Weg ins Knappenfusstal zu nehmen, müssen wir zuerst ein Stück den Kiesweg zurück zum Hotel Plätzwiesen. Der Trail hinunter ist im oberen Teil sehr steinig und hat einige kniffelige Passagen mit Stufen, bei denen man vor allem bei Feuchtigkeit lieber absteigen sollte.
Carsten: „Die Abfahrt hat es im ersten Teil echt in sich. Schmal und steil fällt ein verblockter Trail in eine Schlucht ab. Ich fahre voraus, an einer steilen Steintreppe verweigere ich, der Abgrund am Auslauf der Schlüsselstelle sieht nicht gerade verlockend aus...Dave kommt angefahren, geht mit der Digicam voraus... OK, ich probier es. Hochschieben, umdrehen...der Abgrund, der Kopf lässt es nicht zu...Roland filmt. Noch einmal, ich fahre die Treppe fast ganz runter, wieder sagt der Kopf nein. Na ja lassen wir das. Dave geht hoch, fährt runter...alle Achtung, auch wenn er im Eifer des Gefechts den Rucksack unten liegen gelassen hat.“
Im mittleren und unteren Teil ist der Weg jedoch bestens befahrbar. Dave fährt selbst die steilsten Stufen hinab. Die morgendliche Frische weicht schnell der Kraft der Sonne und so machen wir kurz nach dem Überqueren des Baches eine Pause um uns umzuziehen und Sonnencreme aufzutragen.
Unten im Tal an der Hauptverkehrsstraße angekommen überqueren wir diese und nutzten den parallel dazu laufenden Radweg. Er führt auf einer alten Eisenbahntrasse bis nach Cortina D´Ampezzo (1.211 m). Es geht stetig leicht bergab und wir lassen uns nicht viel Zeit. Neben dem Weg verläuft der Rio Rufredde. Zuerst mit ruhigen Seenlandschaften später stürzt er sich dann in einer Schlucht hinab. Wir folgen der Trasse und kommen durch einen grob ausgesprengten Tunnel, der mit von der Decke hängenden Lampen ausgeleuchtet ist. Jede Menge Fahrradfahrer sind hier unterwegs. In Cortina d´Ampezzo steuern wir direkt den nächsten Supermarkt an, um eine Brotzeit einzukaufen.In der Stadt ist es super hektisch und stickig. Auf dem kleinen Parkplatz vor dem Supermarkt herrscht Verkehrschaos genau wie auf der Kreuzung fünfzig Meter weiter, an der ein Verkehrspolizist versucht Ordnung zu halten. Ich will nur noch raus hier. Wieder in die Berge, wieder in die Natur.
Carsten: „Ich habe mir in einer Apotheke eine neue Tube Voltaren gekauft, es hat gewirkt, heute geht es schon viel besser...“
Kurz hinter Cortina treffen wir einen weiteren Alpencrosser. Ein paar Meter
fahren wir zusammen, dann machten wir eine kurze Pause zum Essen. Was wir jetzt
zu uns nehmen, müssen wir später nicht auf den Berg tragen. Einige
Hundert Höhenmeter Meter weiter oben treffen wir wieder auf den einsamen
Alpencrosser. Wir füllen am Rio di Federa gemeinsam die
Trinkflaschen auf und ich interviewe ihn. Er heißt Bernhard und kommt
aus Ulm. Bisher ist er nicht viel Mountainbike gefahren und hatte sich als Einstieg
gleich einen Alpencross vorgenommen. Er ist ganz begeistert von diesem für
ihn neuen Sport.
Während wir weiter aufwärts
fahren, brennt die Sonne erbarmungslos vom Himmel. Ab der Malga
Federa wird der Weg immer steiler und steiniger und ist mit Rucksack
kaum noch zu fahren. Glücklich erreichen wir schließlich den See
am Croda da Lago (2.046 m). Wir umrunden ihn zur Hälfte,
stellen die Räder beiseite und springen in den kühlen
See. Tut das gut! Auf einem am Ufer stehenden Felsbrocken essen wir eine
Kleinigkeit.
Weiter
geht es einen schmalen Kiesweg
am Hang entlang zur Forcella Ambrizzola (2.277 m). Er macht
nur noch 200 Höhenmeter und ist angenehm zu fahren. Die Aussicht zurück
auf den See und das Panorama
um uns ist grandios. Ich filme die Gruppe aus unterschiedlichen Einstellungen
und bleibe daher etwas zurück. Die drei anderen sind um eine Kurve verschwunden.
Als ich aufschließe merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Carsten
Rad liegt auf dem Weg und er springt fluchend darum herum.
Der Rahmen ist gebrochen. Gerade hier. Auf über 2.000 Meter über dem
Meer. Kilometer weit entfernt von der nächsten Straße, geschweige
denn einer Stadt, oder einem Fahrradgeschäft. Zwischen Sitz- und Oberrohr
klafft eine breite Lücke.
Passiert ist es nicht beim Abfahren, nicht beim Stürzen oder bei einem
Unfall. Nein, beim Bergauffahren auf feinem Schotter, auf einem Weg der nicht
mal besonders steil ist!
Carsten: „Ich fahre gerade mal 500m nach der Rast am See, eine kleine Senke in dem eigentlich gut fahrbaren Trail macht es notwendig etwas kräftiger in die Pedale zu treten...Peng, ein Geräusch wie beim Zertreten einer Getränkedose...ich sitze auf dem Hinterrad...game over. Rahmenbruch, und das beim bergauf Fahren, einfach abgeknallt, der Schrotthaufen...erst mal Dampf ablassen, die Kamera läuft. Was nun?“
Rolf: „Nein, nicht schon wieder! Immer wenn ich
mit Carsten bei gigantischem Panorama in den Dolomiten unterwegs bin gibt sein
Votec den Geist auf, komischerweise immer an einer anderen Stelle.
Carsten ist kurz von dem absoluten Kollaps, wir anderen sind nur entsetzt. Das
könnte das Aus der Tour sein. Es ist Freitag Abend, mitten in den Bergen
ist kaum ein Ersatzbike zu bekommen. Erstmal versuchen wir Carsten zu beruhigen.
Er hält sich auch erstaunlich gut, wenn auch nicht alles sendefähig
wäre. Nach zwanzig Minuten ist der erste Schreck verflogen, das Rad zusammengebastelt
und es geht weiter.“
Doch irgendwie müssen wir weiter kommen. Mit einem Spannriemen
zurren wir das Sitzrohr über Schnellspanner und Dämpfer an das Oberrohr.
Zum Bergauffahren ist das Fahrrad so sicherlich nicht mehr zu gebrauchen. Doch
mit etwas Glück, kann Carsten so ins Tal kommen. Wenn man im Stehen fährt
hält sich die Belastung auf das gebrochene Stück in Grenzen.
Carsten schiebt nun also die letzten hundert Höhenmeter bis zur Forcella
Ambrizzola. Dahinter geht es noch ein Stück weit eben am Hang
entlang, dann führt der Singletrail hinab. Beim Abfahren schlägt
das Oberrohr mehrfach gegen das Sitzrohr. Es gelingt uns nicht die Rohre ganz
zusammen zu spannen. So entwickelten wir den „Tannenzapfendämpfer“.
Carsten steckt einfach einen mittelgroßen, von der Sonne ausgedorrten
Tannenzapfen in das Oberrohr und spannt es dann wieder fest. Jetzt ist das Bastel-Kit
perfekt.
Carsten: „Abfahren geht ganz passabel, das dicke Unterrohr trägt...wie lange noch? Ich kann nur nicht wie gewohnt mit dem Oberschenekl gegen den Sattel drücken um das Bike durch den schmalen Trail zu steuern. Warum heute? Warum gerade hier auf dieser Traumabfahrt nach Allege? Warum hab ich den Schrotthaufen nicht schon nach dem ersten Rahmenbruch vor zwei Jahren verkauft?“
Um nicht noch ein Stück der Straße zum Forcella Staulanza (1.773 m) hinauf fahren zu müssen entschließen wir uns weiter oben am Hang die Höhe über den Dolomitenwanderweg zu halten. Zuerst klappt das ganz prima. Dann wird er jedoch immer unwegsamer und geht ständig bergauf und bergab. Es ist sehr zeitraubend und uns ist allen klar, dass wir das heutige Etappenziel San Martino di Castrozza nicht erreichen werden.
Dave: „Ausgerechnet bei dieser mit über 3.000 Hm veranschlagten Marathonetappe trifft uns das Pech. Ich bekomme es auch noch zu spüren, als mein Schaltwerk das vollendet, was es wohl schon im Karwendel probiert hatte. Nach einem nur seichten Sprung zwei kleine Absätze hinunter, trete ich wieder an, als es einen unangenehmen Krach gibt. Das Schaltwerk hat sich wieder um die Kassette gewickelt. Diesmal hat die Kraft allerdings dazu ausgereicht das Schaltauge abzureißen! Na, zum Glück habe ich Ersatz dabei. Aber die Kette ist jetzt wirklich hinüber und das Schaltwerk müsste eigentlich auch ausgetauscht werden. Das alles zerrt nun extra stark an den Nerven.“
Carsten: „Wir wechseln im Formel 1 Tempo das Schaltauge, bis Rolf und Roland da sind kann´s schon weiter gehen. Ich gebe Gas, ich will schnell zum Pass, hoffe auf das Begleitfahrzeug um vor 18.00 Uhr einen Bikeverleih zu erreichen. Der Weg ist kraftzehrend, wie in Trance peitsche ich mich vorwärts, wuchte den Bock schiebend den Berg hinauf, rase Geröllfelder hinab...hoffentlich hält der Mist. Der Pass, kein Begleitfahrzeug, der Biker von heute Mittag sitzt im Gras, ich zeige Ihm meinen schönen Leichtbaurahmen....“
Der Wanderweg scheint kein Ende zu nehmen. Wir queren zwei Geröllfelder
und sehen unter uns die bequeme Straße. Schließlich erreichen wir
den Forcella Staulanza. Von Forcella Ambrizzola aus hatte ich versucht das Filmteam
zu erreichen, damit sie Carsten hier abholen. Doch von ihnen fehlt jede Spur
- niemand da. Kurzfristig entscheiden wir weiter bis Alleghe
(979 m) zu fahren. Nach einer kurzen Asphaltabfahrt geht es natürlich erstmal
bergauf. Carsten muss schieben, doch wir kommen trotzdem relativ schnell vorwärts.
Teilweise ist der Weg so steil, dass wir im Fahren aber auch nicht viel schneller
sind.
Bald erreichen wir die ausgewiesenen Mountainbikerouten, die uns hinab nach
Alleghe führen sollten. Die Wege sind sehr steil und mit groben Geröll
und holprigen Steinplatten nur für Freunde des Extremen eine Freude. Selbst
der Rahmenbruch vermag Carstens Trailekstase hier nicht einzudämmen! Außerdem
bringen uns die Pfade schnell nach Alleghe.
Es ist kurz nach 18 Uhr, als wir in Alleghe ankommen. Carsten und Dave finden
tatsächlich noch einen Radladen im zwei Kilometer entfernten Masare
(978 m). Mit Rolf zusammen warte ich in der Stadtmitte von Alleghe und bekomme
endlich Kontakt zum Filmteam. Sie sind auf einen Berg gestiegen um dort Atmo-Aufnahmen
zu machen sowie Details der Fauna und Flora der Bergwelt zu filmen. Dort oben
hatten sie natürlich keinen Handyempfang. Wir machen aus, dass sie nach
Alleghe kommen, so dass wir gemeinsam die Nacht verbringen können.
Mit dem Fahrradladen in Masare hat Carsten Glück. Für eine Leihgebühr
von 50 € wird ihm für die nächsten fünf Tage ein Bike vermietet.
Nicht gerade was richtig tolles, aber so kann es weiter gehen.
Carsten: „Mit Händen und Füßen verhandle ich um ein Leihbike. Das Material, das hier herum steht, ist nicht gerade das, womit man einen Alpencross machen kann, na egal, als ich den Preis sehe und daran denke, was für Alternativen ich hier am Ende der Welt habe nehme ich halt, was es gibt. Ich lasse das Votec im Laden zurück und fahre ab sofort weiter auf einem Bike der Baumarktklasse mit dem wohlklingenden Namen Coach...the show must go on!“
Neben dem Bikegeschäft ist auch gleich ein kleines Hotel. Nachdem Carsten
und Dave vom Fahrradgeschäft zurück sind, fahren wir zu viert zum
Hotel und beziehen unsere Zimmer. Mit Micha und André verabreden wir
uns in einer Pizzaria in Alleghe.
Schnell machen wir uns bei den letzten Sonnenstrahlen des Tages auf den Weg
dorthin. Kaum haben wir bestellt, da kommen auch die beiden Filmleute. Die Pizza
ist gigantisch. Ich würde sagen, ich habe im Leben noch nie so eine gute
Pizza gegessen.