Wandern zum Colle d'Entrelor
26 km • + 1.403 hm • - 1.467 hm
Der heutige Tag beginnt schon mal wesentlich besser wie gestern. Wir haben
in richtigen Betten in einem ruhigen Zimmer geschlafen, unsere Bikeklamotten
sind frisch gewaschen und inzwischen trocken. Das Frühstücksbuffet
lässt keine Wünsche offen.
Mit Hilfe der netten Hotelbesitzerin bekommen wir noch die Abfahrtszeit des
Busses ins Val di Rhêmes nach Rhême-Notre-Dame
(1.725 m) heraus. Jetzt wird es kurz hektisch, der Bus fährt in 10 Minuten
und wir müssen noch den richtigen Abzweig ins Tal anfahren und eine Haltestelle
finden. Die Straßen sind noch feucht vom nächtlichen Regen, letzte
Wolkenfetzen und Nebelschwaden ziehen gerade die Hänge hinauf. Unser Schnellstart
gelingt, kaum an der Haltestelle eingetroffen fährt auch schon der Bus
vor. Wir müssen noch schnell die Vorderräder aus den Bikes ausbauen,
um diese unten im Laderaum des Busses verstauen zu können. Und schon geht’s
den Berg hinauf. Beim Blick auf die zahlreichen Serpentinen in dem engen Tal
sind wir ganz froh diese bequeme Alternative für die 1.000-Höhenmeter-Auffahrt
gewählt zu haben.
Eigentlich wollten wir heute 2 neue Pässe ausprobieren, den Col de la Finestra (2.840 m) und den Col dEntrelor (3.007 m). Um dies aber überhaupt schaffen zu können, hätten wir gestern Abend noch ins Val Grisenche fahren müssen um dort frühmorgens starten zu können. Angesichts unseres zu tief liegenden Startpunktes und der etwas unsicheren Wetterlage beschließen wir kurzerhand uns auf den zweiten Übergang zu beschränken. Dies sollte sich später als durchaus richtige Entscheidung herausstellen.
In Notre Dame angekommen verziehen sich gerade die letzten Wolken und wir
starten bei strahlendem Sonnenschein. Der Wanderweg Alta Via Aosta führt
gleich am Ortsende steil durch einen Lärchenwald. Es ist noch schattig
und alles ist feucht vom Regen der letzten Nacht. Unsere Hoffnung auf einen
fahrbaren Weg oder gar einem bequemen Forstweg wird leider nicht erfüllt.
Wir schieben, und vor uns liegen noch 1.200 Höhenmeter. Nach einer halben
Stunde erreichen wir eine Alm und erblicken ein vierrädriges Fahrzeug…
wie das wohl hier heraufgekommen ist? Keinen Ahnung, aber eines ist sicher,
nicht auf dem Wanderweg, auf dem wir soeben die Bikes mühsam hinauf getragen
haben. Wir stellen später fest, dass wir den Scan unserer Wanderkarte hier
etwas knapp abgeschnitten haben und so den vermutlich vorhandenen Wirtschaftsweg
übersehen hatten!
Ab der Alm wird das Gelände flacher,
wir lassen die Baumgrenze hinter uns und können sogar einige Meter fahren.
Inzwischen haben wir auch wieder Sonnenschein, denn bisher hat der vor uns liegende
Berg seinen Schatten auf uns geworfen. Unser Blick schweift zurück nach
Westen, zum Col de la Finestra.
Eine Gruppe Wanderer ist gerade dorthin unterwegs. Der Trail schaut gut aus,
zumindest unten. Oben wirkt das Gelände jedoch mächtig steil und exponiert.
Noch sind die Berge schneebedeckt von den Niederschlägen der letzten Nacht.
Auch wir rechnen bereits damit ab ca. 2.800 m auf Neuschnee zu treffen. Noch
weiter im Westen braut sich wieder Ungemach
zusammen. Der Himmel ist schwarz und es sieht nach neuen Schneefällen aus.Egal,
das soll uns vorerst nicht stören, wir sind in der Sonne. Der Weg führt
weiter steil nach oben, an Fahren ist auf dem Trail schon seit langem nicht
mehr zu denken, da tauchen einige hundert Meter vor uns braune Wesen auf.
Steinböcke?
Klar der Gran Paradiso Nationalpark ist bekannt für seine großen
Steinbockherden. Wir kommen näher an die Tiere heran, sie scheinen keine
wirkliche Scheu zu zeigen. Ich lasse das Bike liegen, hole den Fotoapparat aus
dem Rucksack und pirsche mich näher an die kleine Herde heran. Etwa 15
Geißen mit ihren Kitzen lassen mich bis auf 5 Meter an sich herankommen,
erst dann klettern sie ohne große Hektik einen steilen Felsen hinauf und
schauen mir von oben zu, wie ich mühsam zu meinem Bike zurück trotte.
Roland filmt die ganze Szene. Wir brechen wieder auf und fraxn weiter, die Bikes
auf den Schultern geht es mühsam den steilen Berg hinauf. Was müssen
wohl die agilen und flinken Steinböcke über unser beschwerliches Treiben
hier denken ...?
War der Col de la Finestra eben noch von der Sonne beschienen, ist er inzwischen
bereits in dunkle Wocken gehüllt. Schneesturm! Einige Flocken verirren
sich sogar zu uns hinüber. Wir drängen zur Eile, zumal die letzten
300 Höhenmeter zum Pass hinauf durch eine extrem steile Geröllpassage
führt.
Von unten ist kein Weg
zu erkennen. Ich spüre die Höhe, 2.850 Meter sind geschafft, ich halte
nochmals kurz an, mache ein paar Fotos. Der kurze Stopp hat wieder Sauerstoff
in meine Adern fließen lassen, weiter nach oben, zunächst locker,
dann mit jedem Schritt wieder schwerer. Schließlich bin ich wieder kräftig
am Schnaufen. Das Unwetter
kommt!
Zum Glück haben wir die Schneegrenze der gestrigen Niederschläge zu
tief eingeschätzt, wir erreichen trocken Fußes die Passhöhe.
Es weht ein kräftiger Wind, vorne Sonnenschein und von hinten treiben Schneeflocken
heran. Unsere Rast oben ist daher von kurzer Dauer. Jacke an, Protektoren an,
Sattel runter, Gabel raus und nix wie weg hier. Ein paar Wanderer kommen uns
entgegen, sie schauen angesichts ihrer Marschrichtung nicht gerade glücklich
aus.
Wir lassen es rollen, und es rollt! Ein wahrhafter Holy Trail erwartet uns.
Schnell sind die ersten technisch anspruchsvollen Höhenmeter im Geröll
absolviert. Wir stoppen kurz und blicken zurück: Der Schneesturm blickt
oben, er überschreitet den Pass nicht. Wir haben gewonnen!
Vor uns liegt eine Abfahrt bei Sonnenschein, auf einem Trail der uns mit flüssigen
Passagen, engen Kehren und hohem Tempo ins Tal kacheln läßt. Dazu
dieses atemberaubende Panorama,
des langen, schneebedeckte Gran Paradiso Rückens (Gipfel, 4.061 m).
Dann passiert es, Dave verschätzt sich an einer senkrecht stehenden Steinplatte
und hat einen Durchschlag am Hinterrad. Ich nutze die Gelegenheit auch bei mir
etwas mehr Luft in die Reifen zu pumpen und fahre zu Roland. Er ist bereits
ein Stück voraus gefahren, um uns zu filmen.
Nach diesem kurzen Stopp geht es weiter, der Trail geht nun leicht fallend am
Hang entlang, hier kann schnell gefahren werden. Wir erreichen eine kleine Anhöhe,
grüner bröseliger Fels setzt hier einen bunten Farbklecks in die Landschaft.
Dann geht es weiter, in diese Rinne, diese wahnsinnige Rinne hinab zur Malga
Soprana (2.325 m). Wie in einer Halfpipe geht es hinab, man kann springen,
die Wände hochfahren, Kurven durchdrücken. Und unten hält man
und bekommt das fette Grinsen kaum noch aus dem Gesicht, Wow!
Danach jedoch machen wir einen Fehler: Wir entscheiden uns dummerweise für den Fall Weg 16…auf der Karte als Mountainbike-Route markiert. Dort wo dieser abzweigt wird er schon bald zur Forstpiste und der Spaß ist vorbei. Geht es zunächst noch durch einen reizvollen Lärchenwald langweilt uns dieser völlig anspruchslose Weg mit jeder Kurve mehr und mehr. Man hätte es ahnen können, ausgeschilderte Moutainbikerouten sind all zu oft nur herbe Enttäuschungen. Wir wären besser auf Weg 15 abgefahren, zumal dieser auch den Vorteil bietet, direkt bei der einzigen Unterkunft von unserem Etappenziel Eau-Roussex (1.666 m) zu enden. Wir erreichen den Talgrund stattdessen weiter unten in Degioz (1.540 m) und müssen auf der Straße noch ein Stück hochkurbeln.
Es ist jetzt noch nicht einmal 16.00 Uhr. Dennoch sind wir gezwungen bei bestem Wetter und voller Tatendrang die Etappe bereits jetzt zu beenden, da es auf dem Weg zum Col Lauson (3.295 m) keine Unterkunft gibt. Erst nach dem Pass, nach 1.600 Höhenmetern Aufstieg und 700 hm Abfahrt bietet das Rifugio Vittorio Sella (2.584 m) eine erste Übernachtungsmöglichkeit. Wir checken daher im "A’l'Hostellerie du Paradis" ein, bekommen die letzten vier freien Betten und lassen den Tag mit einem Bierchen im Liegestuhl gemütlich ausklingen.